Abstimmung 1955! - Ja oder Nein?
Das Saarreferendum am 23. Oktober 1955 war eines der wichtigsten Ereignisse in der Geschichte des Landes.
Die saarländische Bevölkerung lehnt das zwischen Frankreich und der Bundesrepublik Deutschland vereinbarte Europäische Statut mit 67,7 Prozent der Stimmen ab. Ministerpräsident Johannes Hoffmann, der für die Autonomie und die Europäisierung der Saar eingetreten war, tritt zurück. Bis zum 10. Januar 1956 leitet Ministerpräsident Heinrich Welsch eine Übergangsregierung, die Neuwahlen zum saarländischen Landtag organisiert.
Am 23. Oktober 1955 bebte das Saarland. Die Entscheidung über das europäische Saarstatut, das im Oktober 1954 von Bundeskanzler Adenauer und dem französischen Premierminister Mendès France augehandelt worden war, bewegte die Menschen zwischen Perl und Gersheim wie keine andere politische Frage nach dem Zweiten Weltkrieg. Ob man dem von den Parlamenten in Paris und Bonn bereits abgesegneten Vertragswerk zustimmen sollte oder nicht, darüber entbrannte ein Konflikt, der das Land in zwei Lager spaltete. Ja-Sager und Nein-Sager standen sich seit dem Beginn des Abstimmungskampfes im Juli 1955 unversöhnlich gegenüber.
Und der Streit, der über diese saarländische Zukunftsfrage entbrannt war, machte vor politischen Gesinnungsgenossen ebenso wenig Halt wie vor Freundes- und Familienkreisen.
Aus früheren Erbfeinden Freunde machen
Dabei war das Saarstatut ja eigentlich als Teil jener europäischen Friedensordnung entwickelt worden, die aus den ehemaligen „Erbfeinden“ Frankreich und Deutschland Partner und Freunde machen sollte. Die auch zehn Jahre nach dem Ende des Weltkriegs noch ungelöste Saarfrage war die letzte Hürde, die auf dem Weg in die deutsch-französische Freundschaft zu nehmen war. Mit dem europäischen Saarstatut schien die Lösung dieses Problems endlich gefunden. Das Saarland, nach dem Krieg von Deutschland getrennt und seit 1947 ein teilautonomer Staat im französischen Wirtschaftsverband, sollte nun das erste „europäisierte“ Land werden.
Das heißt: innenpolitisch autonom, außenpolitisch in die Westeuropäische Union integriert, ökonomisch mit Frankreich verbunden.
Das Saarstatut wurde zur emotionalen Feuertaufe
Weil das Saarstatut eine gute und zukunftsträchtige Lösung für alle Beteiligten zu versprechen schien, war die Überraschung darüber groß, welche Reaktionen es im Saarland auslöste. Zumindest in Frankreich, Deutschland und in saarländischen Regierungskreisen hatte man mit solchen heftigen Emotionen nicht gerechnet. Kaum nämlich war der Abstimmungskampf eröffnet, explodierte die Stimmung in fast allen saarländischen Städten und Gemeinden. In unzähligen Wahlveranstaltung, auf tausenden von Plakaten, in Flugschriften und Parteizeitungen, auf der Straße und sogar in den heimischen vier Wänden wurde die Debatte zwischen den Ja- und den Nein-Sagern in immer hitzigeren Tönen geführt. Vor allem in den heißen Spätsommerwochen 1955 kannte der Wille zur oft sehr persönlichen und polemischen Konfrontation kaum noch Grenzen. In manchen Straßenschlachten holten sich einige der sonst so harmoniebedachten Saarländer sogar blutige Nasen.
„Der Dicke muss weg“ wird zum geflügelten Slogan
Die Spannung, die sich im Vorfeld des Referendums von 1955 entlud, hatte mit dem Inhalt des Saarstatuts allerdings nur bedingt etwas zu tun. Denn eigentlich wollten die allermeisten Menschen damals weniger über eine ferne europäische Zukunft als vielmehr über die eigene saarländische Vergangenheit abstimmen. Die Ja-Sager, weil sie hofften, mit dem europäischen Votum einen Schlussstrich unter jenen unheilvollen Nationalismus ziehen zu können, der die Saarländer 1935 Hitler in die Arme getrieben hatte und der nun in neuer Form aufzuerstehen schien.
Und die Nein-Sager, weil sie mit der Ablehnung des Statuts den nationalen Sonderweg des Saarlands ebenso beenden wollten wie das politische System des Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann, der nicht nur mit dem Verbot oppositioneller Parteien Demokratiedefizite offenbart hatte. „Der Dicke muss weg“, dieser Schlachtruf der Nein-Sager wurde zum erfolgreichsten Slogan des Abstimmungskampfes. Er klang fast allen Saarländern noch viele Jahre nach dem Referendum in den Ohren.
Votum für ein Ende des Saarstaats
Je näher der Abstimmungstermin rückte, umso deutlicher wurde bereits, dass die meisten Wähler tatsächlich das Ende des Saarstaats wünschten, dass die hinter den Oppositionsparteien CDU, SPD und DPS stehenden Nein-Sager die Oberhand behalten würden. Das Nein zum Statut, es war da längst in ein Nein zu Hoffmann und ein Ja zu Deutschland verwandelt worden. Gegen die Sogkraft dieser Botschaften konnten auch die kühnsten Visionen der Ja-Sager nichts anrichten: die Vorstellung dauerhafter saarländischer Autonomie ebenso wenig wie die Aussicht, dass Saarbrücken einmal europäische Hauptstadt sein könnte.
Am 23. Oktober 1955 folgten 97% der Wahlberechtigten im Saarland dem Aufruf zu den Urnen. Das Ergebnis fiel mehr als deutlich aus: Gut zwei Drittel der gültigen Stimmen votierten mit „Nein“, knapp ein Drittel hatte sein Kreuz beim „Ja“ zum Saarstatut gemacht. Während der Ausgang der Abstimmung nach den vorausgegangenen Wochen keine Überraschung mehr war, war dies die Nachgeschichte des Referendums durchaus. Zumindest war es überraschend, wie schnell und – gemessen an der Härte des Abstimmungskampfs – wie reibungslos das Land seinen Weg in die bundesrepublikanische Normalität fand. Johannes Hoffmann machte mit seinem Rücktritt noch am Wahlabend den Weg für einen innenpolitischen Neubeginn frei. Außenpolitisch konnten schon bald die Verhandlungen über die Zukunft des Saarlandes beginnen, nachdem Frankreich signalisiert hatte, dass es den Wählerwillen akzeptieren und die Rückkehr der Saar nach Deutschland mittragen würde.
Die Modalitäten dieser Rückgliederung wurden 1956 im Luxemburger Vertrag von Deutschland und Frankreich /staatsrechtlich beschlossen. Am 1. Januar 1957 wurde das Saarland durch Beitritt zur Bundesrepublik Deutschland dessen zehntes Bundesland. Anderthalb Jahre später, am 5 Juli 1959, fielen auch die Zollschranken, die noch zwischen dem Saarland und Deutschland existiert hatten.
Europäische Integration wurde zum Leitmotiv
Obwohl die Europäisierung der Saar 1955 gescheitert ist und die Saarländer damals von nationalen Motiven geleitet wurden, sind die großen Befürchtungen der Ja-Sager nicht Realität geworden. Weder erlebte das Land eine Renaissance des Nationalismus, noch war sein europäischer Weg mit der Absage an das Statut beendet. Ganz im Gegenteil wurde der Wille zur europäischen Integration hierzulande auch und gerade nach den Erfahrungen des gescheiterten Referendums zu einem von allen Kräften getragenen Leitmotiv des Bundeslandes. Auch deshalb bleibt die Abstimmung vom 23. Oktober 1955 eines der wichtigsten Ereignisse der saarländischen Geschichte.